Begonnen hat alles mit Commissario Montalbano, dem Serienheld des Schriftstellers Andrea Camilleri aus Sizilien. Fällt der Name Montalbano, taucht in meiner Erinnerung die Eingangsszene der italienischen Fernsehserie auf. Ich fliege durch den blauen Himmel im Süden Siziliens und blicke von oben auf die sonnendurchflutete barocke Stadt. Ich verfolge das Auf und Ab der Straßen, fliege vorbei an den mittelalterlichen und barocken Kirchen und den unzähligen Treppen und Gassen, die sich durch das Gewirr der Häuser hinauf und hinunterwinden. Und dann lande ich mitten in der Amtsstube des Commissario.
Fahrt nach Süd-Sizilien
Diese Bilder im Kopf mache ich mich eines frühen Samstagmorgens von Cefalú im Norden Siziliens auf gen Süden und folge den Spuren des Commissario Montalbano und seiner Film-Drehorte. Auf etwa halber Strecke lege ich in Caltanissetta einen Halt ein. Von außen ist die Stadt abweisend. Kahl und schroff stehen hier Wohnsilos und Plattenbauten. Gekommen bin ich ja auch nicht wegen der Stadt, sondern wegen ihres Mineralien-Museums. Als ich es endlich finde, stelle ich fest: Es ist ein Rohbau. Der Reiseführer war offensichtlich schneller als die Architekten. Doch dann finde ich die provisorische Mineralienausstellung doch noch und mein Reiseplan gerät gehörig durcheinander.
Begegnung zwischen Gips und Schwefel
Das Mineralienmuseum ist ein Schwefel-Museum. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts war die Umgebung von Caltanissetta ein Zentrum des Schwefelabbaus in Sizilien. Hier also mitten zwischen den Sulfid-, Sulfat- und Schwefelkristallen, zwischen Gips, Anhydrit und Coelestin begegne ich Michele.
Michele ist ein braun gebrannter Sizilianer mit Goldrandbrille, vielleicht Anfang siebzig. Er lacht und redet und freut sich sichtlich über die unverhoffte Gesellschaft. Er sei, sagt er, sein ganzes Leben lang als Geologie-Ingenieur und Berater weltweit im Schwefelbergbau aktiv gewesen. Jetzt im Ruhestand habe er sich intensiv mit der Geschichte seiner Region auseinander gesetzt. Und in Caltanissetta kenne er jeden, auch jedes Haus und dessen Geschichte.
Wir wandern durch das historische Zentrum der Stadt, durch enge Gassen mit notdürftig ausgebesserten Fassaden, alles in braun-beige. Die Entwicklungsgeschichte des Schwefelabbaus und seiner Weiterverarbeitung, der Aufstieg und Niedergang, spiegelt sich in der Architektur und Stadtstruktur, in den ehemaligen, armseligen, engen und dunklen Wohnstätten der Arbeiter und in den Prachtbauten der Minenbesitzer wieder. Seitdem in Sizilien die Schwefelindustrie Mitte des letzten Jahrhunderts zum Erliegen kam, verfällt die Stadt.
Geschichten von Schwefelschleppern, Arbeiterliedern und der Madonna
Zeugen der caltanissettanischen Industriegeschichte stehen in der ländlichen Umgebung der Stadt: Mehrere alte Fördertürme, zum Teil mit deutschen Firmenaufschriften. Manches erkennt man erst, wenn man genauer hinschaut. Die alten Verwaltungsgebäude und Baracken verfallen. Die Natur erobert sich die brachliegenden Flächen bereits zurück.
Michele hat viel zu erzählen. Von den 700 Schwefelgruben, vom Aufstieg und Niedergang der Stadt Caltanissetta. Er kennt die Minen und die Abbauhalden, die Kinderfriedhöfe, die alten medizinischen Chroniken. Und er kennt noch viele der alten Vorarbeiter.
Es ist zwar erst Mai, aber hier im hügeligen Inland Siziliens ist es bereits richtig heiß. Wir sitzen unter einem Baum im Schatten und ich lausche den Geschichten von Michele. Was er liest, klingt nur entfernt Italienisch. Es ist sizilianisch. Er rezitiert mit Inbrunst und Pathos sizilianische Balladen, wird laut und leise und lyrisch. Es sind die Erzählungen, die Lieder, die Hoffnungen der ehemaligen Bergarbeiter, die ihr meist kurzes Leben im Schwefel verbracht haben.
Michele spricht von dem Platz, an dem sich die Minenarbeiter immer versammelten, von ihren Liedern, von den Kindern, die in den Schwefelminen gearbeitet haben. Sie konnten besser in die schmalen Löcher kriechen als Erwachsene. Michele beschreibt die 10-Stunden-Schichten, die Unfälle, die Krankheiten, das unsägliche Leid der Arbeiter im Schwefel.
Ich sehe sie förmlich vor mir, die unterentwickelten, abgemagerten Gestalten, mit gelber Haut und rachitischen Beinen. Gebückte Körper mit Rückenproblemen vom Arbeiten in den niedrigen Stollen, die hustenden und schwer atmenden Männer mit Lungen voller Schwefelstaub, der stete Kampf ums Überleben. Und die vielen fruchtlosen Gebete zur Madonna.
Andrea Camilleri und der Schwefel
Trotz der drückenden Hitze bekomme ich Schüttelfrost. Ich muss meinen Vorleser bremsen. Diese Geschichten muss ich erst einmal verkraften.
Ob ich denn Andrea Camilleri kenne, fragt Michele. Ja klar kenne ich den. Mit Commissario Montalbano hat ja alles begonnen, ich bin hier in Sizilien sozusagen auf seinen Spuren. Michele ist begeistert. Das sei ja großartig. Camilleri sei ein Freund von ihm. Er sei eines Tages zu ihm gekommen, weil er für sein Buch „Il neto del Negus“ auf der Suche nach Informationen zum Schwefelabbau der Vergangenheit war. Michele blättert wieder in seinem Buch und schildert seine Begegnung und die Zusammenarbeit mit Camilleri.
Abschied. Zurück in die Gegenwart
Inzwischen ist es fünf Uhr nachmittags. Ich muss langsam aufbrechen. Um acht Uhr abends will ich in Ragusa sein. Ragusa war einer der Drehorte für den Commissario-Montalbano-Film. Aber zwischen Caltanissetta und Ragusa weiter südöstlich liegt ein gutes Stück Wegstrecke. Michele fährt mich zurück zum Museum, wo mein Wagen parkt und ich mache mich auf den Weg in den Süden Siziliens, um weiter den Spuren des Commissario Montalbano zu folgen.
Übrigens: Das mineralogische Museum in Caltanissetta ist inzwischen fertig gestellt und eingeweiht! Wer mehr über die Schwefelmineralien Siziliens und das Museum in Caltanissetta erfahren möchte, findet Fotos und Informationen auf den folgenden Seiten im Internet: Facebook-Seite des Museums + Blog von Michele Curcuruto.